Adeline blickte flüchtig auf ihre Stickerei.
»Ich habe es von meiner Mutter gelernt. Sie war sehr gut darin. Ich habe versucht, es Katie beizubringen, als sie jünger war, aber sie hatte keine Geduld. Ich habe schließlich nachgegeben. Ich habe immer wieder nachgegeben. Jetzt zahle ich den Preis dafür. Ich hätte hart bleiben sollen, hätte darauf bestehen sollen, dass sie ein gutes Internat besucht, sie daran hindern müssen, immer wieder nach Bamford zu fahren …« Sie schloss kurz die Augen.
»Jetzt ist es zu spät dazu.«
»Es ist nicht Ihre Schuld«, sagte Meredith sanft.
»Sie wollten Ihr Kind schützen, aber Sie konnten nicht ihr Leben für sie leben. Was geschehen ist, ist eine schreckliche Tragödie. Doch sie hätte sich überall ereignen können.«
»Sie hat sich aber nicht überall ereignet, sondern hier!« Adeline starrte Meredith kalt an. Dann entspannte sie sich ein wenig und winkte Meredith mit ihrer langen, knochigen Hand zu sich. Das Licht fing sich glitzernd in den Ringen. Meredith ging zu ihr, und die Katze sprang vom Sims und schlich davon.
»Sehen Sie das da, dort drüben?« Adeline deutete auf eine Baumgruppe am Rand des Parks. Über den Wipfeln waren zwei Türme zu sehen, die wie Pfefferstreuer geformt waren.
Das Mausoleum, dachte Meredith. Vielleicht nicht gerade der erbaulichste Anblick, den ein Schlafzimmerfenster bieten konnte. Es muss ein seltsames Gefühl sein, wenn dich die Ruhestätte deiner Familie jeden Morgen begrüßt und daran erinnert, wo du enden wirst.
Doch in Adelines Stimme schwang Stolz.
»Das ist die Familiengruft.«
»Das dachte ich mir …« Meredith verstummte unsicher. Sie war nicht sicher, wie viel Adeline wusste – sie hätte Prue nach weiteren Details fragen sollen, bevor sie zu Mrs. Conway ins Zimmer gegangen war.
»Irgendetwas ist dort drüben geschehen«, sagte Adeline.
»Ich weiß nicht, was es war. Es hat keinen Sinn zu fragen. Sie belügen mich alle. Nichts als Lügen, das ist alles, was ich höre. Aber ich bin nicht dumm. Ich habe die Lichter gesehen!«
»Was für Lichter?«, fragte Meredith schärfer, als sie eigentlich beabsichtigt hatte.
»In der Nacht. Um die Zeit, zu der ich mich gewöhnlich schlafen lege. Manchmal ein wenig später. Ich habe Lichter gesehen, dort drüben. Sie haben sich bewegt. Vielleicht war es ein Auto. Wenn es eines war, dann dürfte es eigentlich nicht dort sein, denn es ist unser Land, ein Teil des Parks, auch wenn er auf der anderen Seite der Mauer liegt. Matthew kümmert sich nicht um das Mausoleum. Er sieht nie nach. Er überlässt einfach alles dem armen treuen Mutchings.«
»Erinnern Sie sich noch, in welchen Nächten Sie die Lichter gesehen haben, Adeline?«, fragte Meredith. Doch Adeline lächelte sie nur traurig an.
»Natürlich nicht, meine Liebe. Für mich ist ein Tag wie der andere, und das Gleiche gilt für die Nächte. Ich verlasse nie das Haus, verstehen Sie? Ich gehe nicht nach draußen. Hier drin bin ich sicher. Es ist mein Haus, und niemand kann mir etwas tun, solange ich hier bin. Wenn ich jemals von hier wegginge, würde ich nicht wieder zurückkommen. Das ist der Grund, warum alle wollen, dass ich gehe.«
»Alle?«
»Matthew und diese … diese Frau. Aber ich lasse mich nicht vertreiben!«, sagte Adeline mit beinahe sarkastischer Entschlossenheit. Vielleicht hatte sie es selbst bemerkt, denn sie schüttelte sich und deutete wieder zum Fenster hinaus, auf das ferne Mausoleum.
»Bis hin zu meinem Großvater wurden alle Devaux dort beigesetzt.« Meredith konnte Alan berichten, was Adeline über die Lichter erzählt hatte, doch weitere Fragen waren im Augenblick wohl eher nutzlos. Außerdem konnte Adelines Aussage kaum als zuverlässig betrachtet werden. Sie schien von diesem Mausoleum besessen zu sein.
»Ist es nicht ein ziemlich kleines Bauwerk?«, fragte Meredith.
»Um Platz für all die Toten zu bieten, meine ich?«
»Oh, sie liegen nicht alle oberirdisch in der Kapelle. Es gibt ein Gewölbe darunter, in dem die Särge stehen. Nur ein paar, die berühmteren Familienmitglieder, ruhen in Sarkophagen oben in der Kapelle. Zur Zeit meines Großvaters war allerdings auch das Gewölbe bereits fast voll, und es gab eine starke Geruchsentwicklung. Man hat die Angelegenheit untersucht und herausgefunden, dass einige der ältesten Särge beschädigt waren. Sie bestehen aus Blei, einem sehr weichen Metall. In anderen, noch dichten Särgen hatten sich Körperflüssigkeiten gesammelt. Wussten Sie, dass bei der Zersetzung einer Leiche Alkohol entsteht? Unter günstigen Umständen kann ein Toter auf diese Weise vollständig erhalten bleiben. Man öffnete den Sarg meines Urgroßvaters, weil mein Großvater wissen wollte, was mit dem Leichnam geschehen war. Sie fanden ihn konserviert, mitsamt seinem Totenhemd. Und ob Sie es glauben oder nicht, mit seinem falschen Gebiss. Mein Großvater hat erzählt, sein Vater hätte noch immer beeindruckend ausgesehen, wie im Leben.« Meredith erschauerte, doch Adeline schienen die grässlichen Details nichts auszumachen. Nüchtern fuhr sie fort:
»Man hat den geöffneten Sarg wieder versiegelt, und dann ließ mein Großvater das Gewölbe zuschütten. Sie kippten Schutt hinein, bis unter die Decke, und der Eingang wurde zubetoniert. Die Devaux sind trotzdem noch da, unter all den Steinen und dem Geröll. All die Särge mitsamt Inhalt stehen noch immer dort.« Adeline wandte sich zu Meredith um und betrachtete sie aus wilden, glitzernden Augen.
»Auch ich sollte eines Tages dort beigesetzt werden, denn ich bin die letzte echte Devaux. Und Katie, weil sie meine Tochter ist, muss dort liegen, in der Kapelle. Aber Matthew, mein Ehemann, weigert sich, sie dort zu beerdigen!«
»Ich kann verstehen, wie Sie sich fühlen«, sagte Meredith vorsichtig.
»Aber vielleicht wäre es besser …« Adeline schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort ab.
»Sie verstehen gar nichts! Wie könnten Sie auch? Matthew versteht es nicht, nicht einmal Prue versteht es. Niemand kann es verstehen. Die Devaux sind das Park House. Man kann uns nicht trennen! Ein paar von uns, wie mein Urgroßvater, verwesen nicht einmal! Wir bleiben hier, für immer und ewig!« Eine lange Pause entstand. Dann fuhr Adeline fort:
»Die Polizei war dort drüben. Matthew hat gesagt, Vandalen wären in die Kapelle eingebrochen. Aber ich glaube, er belügt mich. Er belügt mich andauernd, wissen Sie?« Offensichtlich wusste sie nichts von dem Verdacht, dass Lynne Wills in diesem Mausoleum ermordet worden war. Conway hatte es für zu gefährlich gehalten, ihr davon zu erzählen. Trotz all ihres morbiden, temperamentvollen Interesses, wenn es um die Vergangenheit ihrer Familie ging, ließ Adeline die Geschehnisse der Gegenwart und das wirkliche, reale Leben nicht an sich heran. Sie hatte sich eine eigene Welt gestrickt, und das Muster war die Familientradition. Selbst Katies Tod hatte sie mit hineingewoben – wahrscheinlich war es die einzige Art, wie sie das tragische Ereignis verarbeiten konnte. Solange Katie nur eine Devaux blieb und – wenn es nach Adeline ging – in der Familiengruft beigesetzt wurde, blieb das Muster erhalten. Doch wenn das Muster zerbrach – was dann? Das Problem, das die Unterhaltung mit Adeline betraf – ganz abgesehen von den überraschenden Wendungen und Fallen –, bestand darin, dass Meredith nicht wusste, welche Fakten ihr bekannt waren, welche man ihr vorenthalten und welche Geschichten man ihr erzählt hatte, um ihre Neugier zu befriedigen. Berücksichtigte man außerdem die Tatsache, dass Adeline offensichtlich ein tiefes Misstrauen gegen ihren Mann hegte, ob nun aus berechtigten oder eingebildeten Gründen, war dieses ganze Treffen ein einziges Minenfeld. Meredith beschloss, die Geschichte von den Vandalen aufzugreifen. Sie bot sogar ein paar nützliche Argumente.
»Orte wie Ihre Familiengruft ziehen nun einmal Vandalismus an, fürchte ich. Ich denke, allein unter diesem Gesichtspunkt hält Mr. Conway das Mausoleum für nicht geeignet.«
»Wann hat er je gewusst, was für Katie gut war und was nicht? Nur ich wusste es! Aber er hat meine Pläne ständig hintertrieben! Ihre Schule – er bestand auf dieser Klosterschule, weil es eine Tagesschule war. Aber es hatte zur Folge, dass sie ihre freie Zeit in Bamford verbrachte und sich in Gott weiß für welche Gesellschaft begab! Ich wollte sie nach Paris schicken, aber er war auch dagegen!«
»Vielleicht«, warf Meredith ein,
»hatte Ihre Tochter eigene Vorstellungen, was Paris betrifft.« Die Worte stießen auf taube Ohren.
»Ich bin sehr müde«, sagte Adeline unvermittelt und wandte sich vom Fenster ab.
»Es war sehr freundlich von Ihnen, mich zu besuchen. Normalerweise bekomme ich keinen Besuch. Matthew erzählt allen Leuten, ich sei verrückt. Es ist nicht wahr, aber ihm würde es gefallen, damit er mich loswerden kann. Aber ich werde nicht von hier weggehen! Niemals!« In ihren Worten lag eine machtvolle Entschlossenheit. Doch dann änderte sich ihr Verhalten erneut, und zu Merediths Überraschung lächelte sie sehnsüchtig.
»Sie müssen wiederkommen, meine Liebe. Bitte besuchen Sie mich wieder.« Sie streckte Meredith huldvoll die Hand hin. Meredith nahm sie.
»Selbstverständlich werde ich wiederkommen!«, sagte sie impulsiv. Die große Katze saß wie ein Wächter an der Tür und beäugte misstrauisch Merediths Abgang. Meredith bückte sich, um ihr den Kopf zu streicheln, doch sie funkelte sie nur aus smaragdgrünen Augen an und peitschte mit dem aufgeplusterten Schwanz.
»Bewachst wohl dein Frauchen, Miezekatze?«, murmelte Meredith. Sie stieg langsam die Treppe hinab und nahm sich Zeit, ihre Umgebung zu betrachten. Dieses Haus musste früher einmal ein richtiges Juwel gewesen sein. Zwar fehlte ihm die würdevolle Erhabenheit berühmterer Residenzen, doch alles war mit einer Sorgfalt eingerichtet worden, der man das Streben nach größtmöglicher Harmonie anmerkte. Das Haus war eindeutig immer nur im Besitz einer Familie gewesen. Die Porträts an den Wänden zeigten ausnahmslos Vorfahren von Adeline. Es waren solide Arbeiten, keines stammte von einem berühmten Künstler, und so wirkten die Porträtierten teilweise hölzern, und die feineren Details – wie zum Beispiel die Spitzen der Kleider, die sie trugen, waren nur grob ausgeführt. Doch gerade diese Zweitrangigkeit brachte sie dem Betrachter näher und machte sie irgendwie realer. Überall zogen sich Haarrisse durch den Putz, und im Stuck hing dicker Staub. Der Teppichbelag der Treppe war stellenweise abgenutzt bis auf die Fäden. Das Haus war wie ein geliebtes Kind, das nun verwaist war und langsam verwahrloste. Obwohl es in diesem Fall seine Bewohner waren, die einen schweren Verlust erlitten hatten. Unten in der Halle wurde Meredith bereits erwartet. Eine große Blondine in einem dunkelblauen, langärmeligen Kleid mit einem breiten Wildledergürtel, der ihre schlanke Figur betonte, musterte Meredith aus kühlen grauen Augen. Als sie die unterste Stufe erreicht hatte, trat die Blondine vor und streckte Meredith die manikürte Hand hin.
»Mrs. Mitchell? Mein Name ist Maria Lewis, ich bin Mr. Conways persönliche Assistentin. Mr. Conway hat mich gebeten, Ihnen auszurichten, wie dankbar er ist, dass Sie sich die Mühe gemacht haben und zu uns gekommen sind. Normalerweise hätte er Sie selbst begrüßt, aber Sie werden sicher verstehen, dass er sich im Augenblick sehr erschöpft fühlt.« Meredith schüttelte die Finger mit den rot lackierten Nägeln kurz.
»Ich verstehe. Bitte richten Sie ihm aus, dass ich gerne helfe, wo ich nur kann. Sie sind Amerikanerin?« Dieses kleine Detail hatte Alan ihr nicht über die furchtbare Maria erzählt. Meredith musterte die Frau, die ihr gegenüberstand, mit einiger Neugier.
»Tatsächlich bin ich in Kanada geboren, doch meine Mutter hat mich mit in die Staaten genommen, als ich noch ein Kind war. Ich bin dort aufgewachsen und zur Schule gegangen.« Die Antwort klang wie auswendig gelernt und legte die Vermutung nahe, dass die Sprecherin persönliche Fragen nicht mochte.
»Welchen Eindruck hat Adeline auf Sie gemacht?«
»Wenn man alles genau bedenkt, hält sie sich den Umständen entsprechend sehr tapfer.« Die Blondine lächelte beinahe.
»Wenn man alles genau bedenkt? Das ist sehr wohlwollend ausgedrückt. Hat sie Ihnen von ihrer verrückten Idee erzählt, ihre Tochter in diesem Mausoleum beizusetzen?«
»Das hat sie. Es ist offensichtlich unmöglich. Trotzdem, Adeline scheint einen stark entwickelten Sinn für Familientradition zu besitzen.«
»Den hat sie wirklich!« Meredith missfiel die Art und Weise, wie Maria anzudeuten schien, dass Adelines Sinn für Tradition nichts weiter als ein Zeichen für ihre geistige Instabilität war, und so beschloss sie, für Mrs. Conway Partei zu ergreifen. Sie deutete auf die Familienporträts an der Treppenhauswand.
»Ich finde es immer sehr ergreifend, wenn eine Familie seit Generationen in einem Haus lebt, das sie sich vor langer, langer Zeit selbst erbaut hat. Adeline scheint das Haus unter keinen Umständen verlassen zu wollen. Ich gebe zu, das erscheint mir nicht ganz normal, aber ich kann auch sehr gut nachvollziehen, wie so ein Gefühl zustande kommt. Es ist eine – zugegebenermaßen etwas extreme – Form einer ganz normalen Verbundenheit zu seinen Wurzeln.«
»Von wegen«, sagte die Blondine.
»Hier ist nichts ganz normal, glauben Sie mir!« Sie bemerkte Merediths Blick und erkannte, dass wohl ein etwas mitfühlenderer Ton angebracht war.
»Wir sind alle sehr schockiert über Katies Tod. Es ist eine ganz schreckliche Geschichte. Aber nichts währt ewig, oder? Nicht einmal die Familie Devaux. Vielleicht ist es keine Tradition, die hier benötigt wird, sondern eine gründliche Veränderung.« Sie wandte sich um und führte Meredith zur Vordertür.
»Nun, es war nett, Sie kennen zu lernen, Meredith. Passen Sie auf, wenn Sie zur Straße fahren. Die Schweine sind irgendwo dort draußen unterwegs.«
»Oh, danke. Ich würde diese Schweine wirklich zu gerne einmal sehen.«
»Tatsächlich? Ich würde sie zu gerne alle erschießen!« Die Tür wurde energisch hinter Meredith geschlossen, während sie die Stufen zu ihrem Wagen hinunterging. Dort zögerte sie mit der Hand auf dem Türgriff und warf einen Blick zurück auf die verhängten Fenster. Sie hatte das sichere Gefühl, dass sie beobachtet wurde – vielleicht um sicherzustellen, dass sie tatsächlich das Grundstück verließ. Meredith fuhr langsam zum Tor. Es war ganz und gar unmöglich, jetzt davonzufahren, ohne kurz bei diesem eigenartigen Bauwerk zu halten, das das Leben aller in diesem Haus auf so unglückselige Weise zu beherrschen schien. Es war leicht zu finden. Sie musste nur ein paar Hundert Yards die Straße hinunter. Dort stand die kleine Baumgruppe. Zwei moosbewachsene Torpfosten säumten die Straße, dazwischen verlief der Weg, den Alan ihr beschrieben hatte. Meredith lenkte hinein und schaltete den Motor ab. Unter den Bäumen war es sehr still. Der Boden war aufgewühlt, Zeichen der kürzlichen Aktivitäten der Polizei. Für die zweihundertjährige Geschichte der Kapelle war das Eindringen der Polizisten jedoch nicht mehr als ein kurzer Augenblick gewesen. Das Bauwerk selbst, aus der Nähe betrachtet, wirkte verloren, umso mehr, da es so prunkvoll war. So prachtvoll, und niemand, der es bewundern kann, dachte Meredith voller Ironie. Ein großes neues Vorhängeschloss sicherte die Tür und machte ihre Hoffnung zunichte, das Innere zu erkunden. Meredith umrundete das Mausoleum und hielt mehr als einmal erschrocken inne, wenn es irgendwo in den Bäumen raschelte. Es war ein derart nervenaufreibender Ort, dass es ihr schwer fiel, ihre Fantasie im Zaum zu halten. Sie glaubte, einen unangenehmen Geruch wahrzunehmen. Pah, Einbildung, sagte sie sich entschlossen, sicher nur aufgrund Adelines grausiger Geschichte über das Zuschütten der unterirdischen Krypta. Wenn es einen Geruch gab, dann rührte er vom feuchten Mörtel und dem verrottenden Laub her. Trotzdem fand sie Beweise für Adelines Geschichte, in einem rankenüberwachsenen Schutthaufen an einer Wand. Das musste übrig geblieben sein, nachdem die Arbeiter vor mehr als einem halben Jahrhundert mit ihrem grausigen Werk fertig gewesen waren. Direkt am Fuß des Haufens befand sich der Eingang zu einer Höhle, die irgendein Tier ausgegraben hatte. Knochenreste – nach der Größe zu urteilen hauptsächlich von Kaninchen – lagen um den Eingang verstreut. Ein Fuchsbau? Ein Teil des unangenehmen Geruchs schien aus dem Loch zu kommen. Meredith hatte einige Mühe, auf den kleinen Hügel zu klettern. Immer wieder erschwerten ihr große Brombeerranken und Brennnesseln den Weg. Als sie schließlich oben angekommen war, konnte sie auf Zehenspitzen durch ein verstaubtes Fenster im Mausoleum sehen. Sie drückte die Nase dagegen. Ein anderes Gesicht starrte von drinnen zurück. Meredith stieß einen erschrockenen Schrei aus und wäre fast von ihrem unsicheren Aussichtspunkt gefallen. Dann begriff sie, dass es die Steinbüste eines lang verstorbenen Familienmitglieds sein musste, das sie mit blicklosen Augen in einem strengen Gesicht anstarrte, gerahmt von einem breiten Backenbart. Sie sah eine ganze Anzahl von Büsten, aufgereiht in Nischen entlang der gegenüberliegenden Wand. Meredith kletterte wieder nach unten, klopfte ihre Kleidung ab und kehrte zum Wagen zurück. Das war kein Ort, an dem man länger als nötig blieb. Alles in allem hatte sie einen beunruhigenden Nachmittag hinter sich, und am beunruhigendsten von allem war das unangenehme Gefühl, dass Adeline Conway irgendwie in Gefahr schwebte. KAPITEL 15 Es war eigentlich wenig überraschend, dass der Besuch in Park House dazu führte, dass Meredith die Verabredung mit Barney Crouch völlig vergaß. Als es am Samstagabend an ihrer Haustür klingelte und Barney auf der Treppe stand, war sie im ersten Augenblick völlig verblüfft.
»Fertig zum Detektiv spielen?« Barney rieb sich aufgeregt die Hände.
»Ich habe eine Liste aller Pubs in der Umgebung angefertigt, und wenn wir damit durch sind, können wir unser Netz weiter auswerfen. Er hat wahrscheinlich einen Wagen. Ich hab keinen, aber Sie, oder? Als Nächstes könnten wir die umliegenden Dorfkneipen versuchen.«
»Barney …«, sagte Meredith, doch dann brach sie ab und sah ihn hilflos an. Ihr war überhaupt nicht danach zumute, in fremden Kneipen herumzusitzen und auf die entfernte Chance zu hoffen, dass sich Lynnes Männerbekanntschaft dort zeigte. Doch Barney wirkte begeistert und hatte sich offensichtlich große Mühe gegeben, um ein passendes Erscheinungsbild als Begleiter einer Lady abzugeben. Er hatte sich das Haar ordentlich gekämmt und den Bart gestutzt und sogar eine – wahrscheinlich antike – Krawatte umgebunden. Es war ganz unmöglich, ihn zu enttäuschen.
»Geben Sie mir zehn Minuten, um mich fertig zu machen«, sagte sie also.
»Ich war heute Nachmittag in Park House und bin ein wenig spät dran. Ich bin ziemlich müde und kann Ihnen heute Abend nicht mehr als vielleicht eine Stunde versprechen. Außerdem sollten Sie vielleicht lieber Sergeant Turner mitnehmen, nicht mich.« Barney legte einen knorrigen Finger an die Nase.
»Wir sollten es erst mal in der Familie lassen«, sagte er geheimnisvoll.
»Für den Fall, dass es nicht funktioniert.« Aus einer Stunde wurden fast drei. Barney war ein fröhlicher, unterhaltsamer Begleiter, und die Zeit verging wie im Flug. Doch der Gedanke daran, eine ganze Reihe von Abenden wie diesen zu verbringen, führte Meredith zu der Erkenntnis, dass ihr Angebot vielleicht ein wenig voreilig gewesen war. Barney war ohne Zweifel leidenschaftlich entschlossen, diesen Mann zu finden. Falls Mrs. Pride glaubte, es wäre nur eine Ausrede für eine ausgedehnte Zechtour, dann irrte sie sich. Nun ja, vielleicht nicht ganz. Sie begannen im Bunch of Grapes und gingen von dort ins White Heart und weiter ins Lord Nelson. Erst als dort die letzte Runde ausgerufen wurde, blickte Meredith auf ihre Uhr und stellte entsetzt fest, wie spät es geworden war. Sie hatte sich den ganzen Abend lang entschlossen an Tomatensaft gehalten, und nun war ihr ein wenig unwohl. Was die Dinge noch schlimmer machte: Sie hatten niemanden gesehen, der Barney auch nur entfernt an den Mann erinnerte, den sie suchten. Barney leerte sein Glas.
»Ein fruchtloser Abend, aber wir werden nicht aufgeben, meine Liebe! Morgen versuchen wir’s im Royal George und im Fisherman’s Arms.« Der Abend mochte fruchtlos im Hinblick auf den gesuchten Mann gewesen sein, doch da Meredith den größten Teil der Drinks bezahlt hatte, war er für Mr. Barney Crouch nicht ganz unprofitabel geblieben.
»Nein, Barney, ohne mich. Nicht morgen. Ich muss am Montag sehr früh am Bahnhof sein. Rufen Sie mich im Verlauf der Woche an.«
»Meinetwegen«, sagte Barney ein wenig enttäuscht.
»Dann mache ich eben solange alleine weiter. Ich hab nämlich so ein Gefühl, wissen Sie?«
»Ich auch«, murmelte Meredith und wünschte inständig, sie hätte die letzte Portion Nachos mit Peperoni ausgelassen.
Meredith kam nach Hause, ging zu Bett und schlief auf der Stelle ein. Am Sonntagmorgen wurde sie von der Türglocke geweckt. Sie drehte sich um, griff nach dem Wecker und stöhnte. Es war nach elf. Sie hoffte, dass es nicht schon wieder Barney war, der einen schnellen Frühschoppen vorschlug – für den Fall, dass der geheimnisvolle Mann auch zu einer anderen Tageszeit in Pubs verkehrte. Sie kämpfte sich aus dem Bett und öffnete das Fenster. Unten im winzigen gefliesten Vorgarten stand Alan Markby und schirmte die Augen mit der Hand ab, während er zu ihr nach oben sah.
»Tut mir Leid, wenn ich dich geweckt habe. Ich dachte, du hättest vielleicht Lust, irgendwo mit mir zu Mittag zu essen!«, rief er.
»Ich komme runter!« Meredith mühte sich in ihren Morgenmantel und rannte barfuß die Treppe hinunter, um Markby zu öffnen.
»Ich wollte eigentlich nicht so lange im Bett bleiben.« Sie fuhr sich mit der Hand durch das dichte braune Haar, bis es von ihrem Kopf abstand wie ein Busch.
»Ich setze eben Kaffee auf.«
»Ich mache das«, sagte er.
»Geh nur, und zieh dich an.« Er streckte die Hand aus und strich über ihr widerspenstiges Haar.
»Geh schon, hau ab. Du siehst aus wie die Dulle Griet*.«
Sie rümpfte die Nase. Markby beugte sich vor und küsste sie leicht.
»Kaffee«, erinnerte sie ihn.
»Schon gut, schon gut …« Ein wenig später saßen sie beim Kaffee, und er erzählte ihr über Nikki Arnold, während sie im Gegenzug von ihrem Besuch in Park House berichtete.
»Ich hätte mich eigentlich bei Vater Holland melden müssen, denke ich. Aber er wird heute beschäftigt sein. Ich rufe ihn morgen Abend an, wenn ich von der Arbeit zurückkomme. Vielleicht nehme ich mir auch diese Woche ein paar Tage frei, damit ich das Haus zu Ende renovieren kann. Ich habe noch etwas Resturlaub.«
»Eigentlich müsste ich morgen noch mal mit diesem jungen Sanderson reden«, sagte Markby ohne rechte Begeisterung.
»Du glaubst doch nicht wirklich, dass er etwas mit Katies Tod zu tun hat?«, protestierte Meredith.
»Er schien so in sie verliebt!«
»Es wäre nicht das erste Mal, dass eine Frau von einem sitzen gelassenen Liebhaber ermordet wird. Er hat sie, seinen eigenen Worten nach, noch am Abend vor ihrem Tod getroffen, und sie haben sich gestritten. Wir haben nur sein Wort, dass es kein ernsterer Streit war. Er sagt, er hätte geglaubt, dass sie zum Taxistand gegangen wäre. Aber kein Taxifahrer erinnert sich, sie an diesem Abend gesehen zu haben. Allmählich sieht es ganz so aus, als hätte sie versucht, zu Fuß nach Hause zu laufen.«
»Aber es muss doch bereits stockdunkel gewesen sein, oder? Park House liegt sehr isoliert, und die Straße dorthin ist einsam.«
»Der Junge hat gesagt, dass sie die Strecke trotzdem manchmal im Sommer gegangen ist. Hätte er gewusst, dass sie vorhatte, zu Fuß zu gehen, hätte er versucht, es ihr auszureden, und wenn seine Bemühungen fruchtlos geblieben wären, hätte er sie begleitet. Woher weiß ich, dass er es nicht tatsächlich getan hat? Als er es ihr nicht ausreden konnte, hat er sie nach Hause begleitet. Unterwegs ist der Streit erneut ausgebrochen. Es ist ein plausibles Szenario, und es gibt eigentlich nur eine Sache, die dagegen spricht: Der Schlag, der Katie getötet hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Josh imstande wäre, mit solch brutaler Effizienz zuzuschlagen.« Markby streckte die Hand waagerecht aus und machte die Finger steif.
»Ungefähr so.«
»Nicht!«, sagte Meredith scharf.
»Es ist auch so schon schlimm genug! Wusstest du, dass Adeline Conway ihre Tochter im Familienmausoleum beisetzen will?« Markby stöhnte.
»Auch das noch! Jemand muss es ihr ausreden!« Er runzelte die Stirn.
»Weißt du, was mir am meisten zu schaffen macht? Die Collegemappe des Mädchens. Josh hat gesagt, dass sie eine grüne Ledertasche bei sich hatte, und Prue Wilcox hat bestätigt, dass Katie jeden Tag damit zur Schule gefahren ist. Josh sagt, die Tasche wäre an jenem Abend so voll mit Hausaufgaben gewesen, dass der Reißverschluss nicht mehr richtig zugegangen ist. Wir haben die Gegend zweimal abgesucht, wo Barney Crouch sie gefunden hat. Nichts. Nicht die geringste Spur.« Markby streckte die Beine unter dem Tisch und seufzte.
»Wo also ist die Tasche geblieben?«
»Es geht dir an die Nerven, Alan, nicht wahr?«, fragte Meredith leise. Er zuckte die Schultern.
»Zwei Morde an jungen Mädchen in einer kleinen Gemeinde wie dieser lassen wohl niemanden kalt. Niemand fühlt sich mehr sicher. Die Menschen haben Angst, über vertraute Straßen zu gehen oder die Kinder zum Spielen nach draußen zu lassen. Wenn das Vertrauen einmal zerbrochen ist, lässt es sich so leicht nicht wieder herstellen. Selbst wenn alles vorbei ist und der Täter gefasst wurde, werden die Dinge nicht wieder sein wie vorher.«
»Wir müssen nicht zum Essen ausgehen, wenn du nicht möchtest. Ich bin sicher, ich kann eine Kleinigkeit improvisieren«, schlug Meredith vor.
»Ich habe noch eine Flasche Wein.« Sie zögerte und überlegte, ob sie ihm von ihrer Expedition zusammen mit Barney Crouch erzählen sollte. Eine schöne Zeitverschwendung schien dieses Abenteuer zu werden! Sie beschloss, Alan nicht damit zu belästigen.
»Bist du eigentlich mit deiner Jagd nach dem walisischen Küchenschrank schon weitergekommen?«, fragte er, während er die Füße anzog und sich erhob.
»Nein. Irgendwo muss es einen geben, aber die klassischen Küchen sind im Augenblick der letzte Schrei, wie ich mir immer wieder sagen lassen muss. Walisische Schränke sind fast nicht zu bekommen.«
»Warum besuchst du nicht einmal die Wirtin vom Silver Bells? Sie haben die alten Küchenmöbel rausgerissen, und man kann schließlich nie wissen. Ich gestehe, es ist nur eine kleine Chance, also mach dir lieber nicht zu viel Hoffnungen.«
»Das ist eine gute Idee! Ich werde gleich morgen dort vorbeifahren!«
»Sprich mit der Frau. Der Wirt kommt nicht aus unserer Gegend. Ich könnte das Lokal jederzeit schließen lassen, nach allem, was wir erfahren haben. Aber die beiden sind noch nicht lange hier, und beide sind nicht vorbestraft, also gebe ich ihnen noch eine Chance, ihren Laden auf Vordermann zu bringen. Sie haben hart gearbeitet und möchten wirklich etwas aus dem Pub machen.«
»Dann könnten sie wahrscheinlich gut ohne die Probleme leben, die ihnen Lynne Wills beschert hat, wie?«, beobachtete Meredith.
»Es soll ihnen eine Lehre sein, sich genau anzusehen, an wen sie Alkohol ausschenken«, sagte Markby ohne eine Spur von Mitleid.
»Wo ist diese Flasche Wein?«
* Gemeint ist die Figur auf dem gleichnamigen Bild (Dulle Griet) von Pieter Bruegel. (Anm. d. Übers.)
Zwei Ermittlungen, die vielleicht im Zusammenhang stehen, vielleicht aber auch nicht, verkomplizieren das Leben ohne Ende, dachte Markby am Montagmorgen. Doch es war nicht nur das, was ihn so unzufrieden machte. Den Sonntag mit Meredith zu verbringen war stets wundervoll, doch der Beginn einer neuen Woche und die unvermeidliche Tatsache, dass jeder wieder seiner Wege ging, betonten jedes Mal aufs Neue, dass sie nur eine Wochenend-Beziehung hatten. Es sah alles danach aus, als würde sich auch in Zukunft nichts daran ändern. Doch in irgendeinem Winkel seines Bewusstseins weigerte er sich immer noch, das zu akzeptieren. Es war wie ein ungelöster Fall, eine offene Akte, die nicht vom Schreibtisch und aus seinem Gedächtnis verschwinden wollte. Sie verlangte danach, abgeschlossen zu werden. Damit alles seine Ordnung hatte. Markby seufzte laut.
»Glaubt der Superintendent immer noch, dass wir nach einem einzigen Mörder suchen?«, erkundigte sich Helen Turner, die Markbys Seufzer falsch interpretierte. Zehn Minuten zuvor hatte Markby mit seinem Vorgesetzten telefoniert.
»Was? Oh, nun ja, er ist schwer zu überzeugen, sagen wir es mal so. Ich weiß es nicht. Gäbe es eine Verbindung zwischen den beiden Morden, dann wohl dieses elende Mausoleum, und wenn es nur deswegen ist, weil es auf dem Grund und Boden der Devaux steht. Aber wir wissen nicht, ob Katie überhaupt jemals dort gewesen ist.«
»Die Tür wurde von jemandem aufgesperrt, der in den Besitz des Schlüssels gelangt ist und ihn anschließend wieder an den Haken im Anrichtezimmer hängen konnte«, sagte Helen.
»Wie ich das sehe, Sir, muss es jemand aus dem Haus gewesen sein.«
»Oder Dom Harris, trotz Marias gegenteiliger Versicherungen? Ist irgendjemand dabei, diesen Burschen unter die Lupe zu nehmen? All diese elektronischen Spielereien – sicher sind einige davon heiß? Oder vielleicht war es auch Mutchings. Wir dürfen ihn nicht ausklammern, nur weil er offensichtlich nicht der Hellste ist. Hier scheinen die Arnolds das verbindende Glied zu sein. Wenn irgendjemand weiß, wer den Schlüssel besorgt hat, dann die junge Nikki, jede Wette! Ich schätze, wir müssen uns sämtliche Jugendlichen noch einmal vornehmen. Ich kümmere mich um den Jungen, Josh Sanderson. Sie scheinen das Vertrauen von Mrs. Arnold gewonnen zu haben. Versuchen Sie noch einmal, mit ihr zu reden. Wenn es Ihnen gelingt, sie auf Ihre Seite zu ziehen, bringt sie ihre Tochter vielleicht zum Reden.«
Helen verzog das Gesicht. Nichtsdestotrotz war sie in der Mittagszeit wieder vor der Wohnung der Arnolds. Irgendjemand war zu Hause, denn hinter der Tür hörte sie den Fernseher laufen. Sie drückte auf den Klingelknopf, bis ein Scharren sie informierte, dass jemand auf der anderen Seite mit der widerspenstigen Tür kämpfte. Schließlich flog sie auf, und Mrs. Arnold erschien. Sie trug einen kirschroten Satinmorgenmantel und leichte pinkfarbene Slipper. Das rote Haar hing in wirren Strähnen rings um ihr Gesicht. In einer Hand hielt sie eine Zigarette, in der anderen einen Becher Kaffee.
»Oh, Sie sind das«, sagte sie.
»Kommen Sie rein, Schätzchen. Ich hatte eine lange Nacht und bin ein wenig spät dran.« Helen folgte ihr in das unordentliche Wohnzimmer. Aus dem Fernseher in der Ecke dröhnte ein Zeichentrickfilm.
»Könnten wir den vielleicht ausschalten?«, rief Helen laut.
»Was?«, rief Mrs. Arnold.
»Den Fern …« Helen sah, dass sie selbst aktiv werden musste. Sie schaltete den Fernseher aus.
»Man fühlt sich nicht so allein, wenn das Ding läuft«, erklärte Mrs. Arnold.
»Warten Sie, ich hol Ihnen ’ne Tasse.« Sie verschwand im angrenzenden Zimmer, und Helen hörte, wie sie mit Utensilien klapperte. Helen beschloss, lieber nicht in die Küche zu sehen. Mrs. Arnold kehrte mit wehendem Morgenmantel zurück. Darunter war ein schwarzer Nylonschlafanzug zu sehen.
»Hier, bitte.« Sie reichte Helen freundlich einen dampfenden Becher, dann ließ sie sich aufs Sofa fallen und bemühte sich vergeblich, den Mantel vorne wieder zu schließen.
»Meine Nikki ist in der Schule«, ächzte sie.
»Falls Sie wegen ihr gekommen sind.«
»Ja. Eigentlich wollte ich zu ihr, und ich war bereits in der Schule. Sie ist heute nicht dort erschienen.« Mrs. Arnold starrte Helen über den Rand ihres Bechers hinweg an. Um ihre Augen haftete noch die verschmierte Schminke des Vortags.
»Sie ist heute Morgen zur Schule gegangen! Ich hab sie gehört. Sie hat noch ›Tschüs, Mum‹ gerufen!«
»Aber sie ist nicht in der Schule gewesen. Und ich habe dort erfahren, dass es nichts Ungewöhnliches ist, wenn sie schwänzt.«
»Meine Tochter schwänzt die Schule?« Mrs. Arnold paffte ungläubig an ihrer Zigarette und starrte Helen an.
»Das hat man mir noch nie gesagt!«
»Die Schule hat Sie bereits zweimal diesbezüglich angeschrieben, Mrs. Arnold. Man hat Sie gebeten, sich wegen Nikki mit den Lehrern in Verbindung zu setzen.« Mrs. Arnold warf einen zweifelnden Blick auf den Stapel Post hinter einer Steingut-Eule auf dem Wandregal.
»Könnte in dem Stapel da untergegangen sein. Ich hab noch nicht alles gelesen.«
»Sie wissen nicht zufällig, wohin Nikki gegangen sein könnte?«
»Ich dachte, sie ist in der Schule«, antwortete Mrs. Arnold einfach.
»Sind Sie ganz sicher, dass sie nicht da ist?«
»Ich denke, Mrs. Arnold«, sagte Helen,
»es gibt noch einige andere Dinge, die Ihre Tochter Ihnen vorenthält.« Sie berichtete, was sie wusste, und wartete auf eine Reaktion. Diese kam in Form einer Reihe farbenfroher Flüche, denen Mrs. Arnold schließlich entschieden hinzufügte:
»Ich glaube das einfach nicht! Diese Lynne Wills, vielleicht. Aber nicht meine Nikki, sie reißt doch keine Männer in Pubs auf? Ganz bestimmt nicht! Sie ist nicht so dumm! Hören Sie …« Sie verengte die mit Maskara verschmierten Augen zu Schlitzen.
»Haben Sie Beweise für das, was Sie da sagen?«
»Wir haben eine Reihe starker Verdachtsmomente, wie es im Polizeijargon heißt. Ich denke, Sie sollten mit Ihrer Tochter reden. Und lassen Sie sich nicht mit Ausflüchten abspeisen.« Mrs. Arnolds Streitlust wandelte sich in rührseliges Selbstmitleid. Sie blinzelte unter Tränen und verschmierte ihre Schminke noch mehr.
»Es ist nicht leicht, so ein Kind ganz alleine aufzuziehen, wissen Sie?«
»Das ist mir bewusst.« Helen bemühte sich, verständnisvoll zu klingen. Sie mochte Mrs. Arnold. Das Leben der armen Frau war ohne jeden Zweifel von Anfang bis Ende eine einzige Katastrophe, mit Nikki als einzigem Lichtblick in einem Meer aus Dunkelheit.
»Ich hab mein Bestes getan! Ich hab ihr ein wunderschönes Zuhause gegeben!« Sie deutete auf das Chaos ringsum. Es strahlte tatsächlich eine gewisse Gemütlichkeit aus.
»Sie sagen, Nikkis Vater hätte Sie beide verlassen? Zahlt er denn wenigstens Unterhalt für Nikki, oder hat er je welchen gezahlt? Das Gesetz über Väter, die sich der Unterhaltspflicht entziehen, wurde nämlich verschärft, und wir könnten ihn suchen und zum Zahlen zwingen.« Sie schüttelte den Kopf.
»Keine Ahnung, wo er steckt! Ich will es auch gar nicht wissen! Ich will nicht, dass er wieder in mein oder in Nikkis Leben tritt! Wir sind ohne ihn zurechtgekommen, Nik und ich, bis heute, und wir kommen auch in Zukunft ohne ihn aus! Trotzdem, danke für Ihr Angebot.« Ein wenig wirr im Kopf mochte Mrs. Arnold ja vielleicht sein, und hoffnungslos, was einen ordentlichen Haushalt anging, aber in ihrer trotzigen Haltung lag etwas Bewundernswertes, Rührendes. Ihre Loyalität gegenüber Nikki war über jeden Zweifel erhaben. Helen beugte sich vor.
»Hören Sie, vielleicht sollte ich das ja nicht sagen, aber ich möchte nicht, dass sich das Jugendamt in Ihre Familie einmischt …« Mrs. Arnold blickte sie verängstigt an.
»Ich auch nicht, Liebes! Diese Leute waren einmal hier, vor Jahren, als Nikki noch klein war. Ich hatte wirklich Mühe, sie wieder loszuwerden. Ich schätze, sie meinen es nur gut, aber Nicki war ein kleines Mädchen und … Hören Sie, wenn Nikki die Schule schwänzt, dann werde ich dafür sorgen, dass sie es nicht mehr tut, ich verspreche es! Ich werde sie persönlich hinbringen, bis zum Tor! Was halten Sie davon? Und mit diesen Pubs, da werde ich mit ihr reden und versuchen, sie zur Vernunft zu bringen. Aber sie ist fast sechzehn, wissen Sie? Ich war mit sechzehn schon verheiratet. Sie kommt diesen Sommer aus der Schule.«
»Was hat sie denn für einen Berufswunsch?« Mrs. Arnold wirkte unsicher.
»Sie mag Tiere. Vielleicht könnte sie unten in der Zoohandlung arbeiten.« Was unmittelbar zu Helens nächster Frage führte:
»Sie haben gesagt, Sie wären eine geborene Mutchings. Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie mit Winston Mutchings verwandt sind, dem Schweinehirten von Park House?« Mrs. Arnold lachte heiser auf.
»Der arme alte Onkel Winston! Ich hab ihn seit Jahren nicht mehr gesehen! Als Tante Florie noch gelebt hat, bin ich hin und wieder in ihrem Cottage zu Besuch gewesen. Aber sie ist seit zehn Jahren oder länger tot. Florie hat in dem großen Haus geputzt. Ich denke, Onkel Winston kommt ganz gut ohne sie zurecht.«
»Also kennen Sie Park House und das umliegende Anwesen? Das Mausoleum, das Grabgewölbe, beispielsweise?«
»Was für ein gespenstischer Flecken!« Mrs. Arnolds rundliche Schultern zitterten.
»Ich war nie drinnen. Einmal bin ich auf einen Erdhaufen geklettert und hab durch ein Fenster geschaut. Ich hab eine Menge Steinköpfe in Nischen gesehen. Wirklich schaurig, kann ich Ihnen sagen!«
»Haben Sie vielleicht Nikki davon erzählt?« Mrs. Arnold zuckte die Schultern, und der Morgenmantel rutschte herab und zeigte sie in ihrer ganzen schwarzen Nylonspitzenpracht.
»Kann schon sein. Kinder mögen solche Geschichten, nicht? Ich mochte diese alten Horrorfilme mit Vampiren und so, als ich in ihrem Alter war. Ich mochte diesen Schauspieler, der immer Dracula war. Ich hab mir«, sagte Mrs. Arnold, während sie ihren Morgenmantel wieder über die Schultern zog,
»ich hab mir immer gewünscht, so einen blendend aussehenden Mann zu finden.« Sie sah Helen verwirrt an.
»Aber ich scheine einfach kein Glück zu haben.«
Die ganze Nacht quälte sich Meredith mit der Vorstellung, dass es unter dem Sperrmüll, der bei der Renovierung des Silver Bells angefallen war, einen walisischen Küchenschrank geben könnte. Das Ergebnis war, dass sie am Montagmorgen zu fast unverschämt früher Zeit im Silver Bells anrief, noch bevor sie in den Zug nach London stieg.
Daphne Reeves nahm den Anruf entgegen und lauschte, als Meredith sich zunächst für die frühe Zeit entschuldigte und schließlich vorsichtig auf die alte Küche zu sprechen kam.
»Machen Sie sich keine Gedanken wegen der frühen Uhrzeit, Liebes«, antwortete Daphne am anderen Ende der Leitung.
»Wir stehen hier im ersten Morgengrauen auf! Was suchen Sie? Einen walisischen Küchenschrank?«
»Oder irgendetwas Vergleichbares, ja. Wissen Sie, was ich meine?«
»O ja. Wir hatten so einen. Ein grässliches altes Ding. Er steht draußen im Schuppen. Wir haben ihn zusammen mit dem Rest rausgeworfen.« Daphne zögerte.
»Sind Sie Händlerin?« Meredith konnte ihr Glück kaum fassen: ein Schrank in Reichweite! Aufgeregt sagte sie:
»Nein. Aber ich würde Ihnen einen angemessenen Preis zahlen!«
»Das werden Sie sich wohl wieder anders überlegen, wenn Sie den Schrank erst mal gesehen haben«, antwortete die Wirtin vorausschauend.
»Niemand würde für das Ding noch etwas geben. Wenn Sie Händlerin sind, sag ich’s lieber gleich, dann sparen Sie sich die Fahrt nach hier draußen.«
»Ich bin keine Händlerin! Ein Freund hat mir erzählt, Sie hätten die alte Küche rausgerissen. Alan Markby. Er ist …«
»Oh, Mr. Markby!« Daphnes Stimme wurde freundlicher.
»Er hat mir erzählt, dass er eine Freundin hat, die ihre Küche renoviert. Nun, Sie können gerne jederzeit vorbeikommen und einen Blick auf das alte Ding werfen. Aber ganz ehrlich, es ist nur noch Plunder!«
»Ich komme vorbei, sobald ich kann!«, versprach Meredith. Schließlich, so dachte sie hoffnungsvoll: Dem einen sein Plunder ist dem andern seine Antiquität. KAPITEL 16 Nachdem Markby Sergeant Turner mit ihren Aufgaben für den Tag betraut hatte, richtete er seine Gedanken auf Josh Sanderson. Er erinnerte sich nur zu genau an die unvorteilhafte Reaktion des Schulmeisters, als er zum ersten Mal wegen dem jungen Sanderson im Bamford Community College vorgesprochen hatte. Markby verzog das Gesicht. Es war nicht fair, die Vorurteile des Mannes gegenüber Josh noch zu verstärken. Er würde bis halb vier warten und hoffen, dass er Josh bei der Rückkehr von der Schule vor dem Haus seiner Tante abfangen konnte. Das Leben war, wie es war, und die beiden Morde, so grässlich sie auch sein mochten, waren nur ein Puzzlestein im großen Plan der Dinge, daher wandte sich Markby zunächst anderen offenen Angelegenheiten zu, die nichts mit dem Tod der beiden Mädchen zu tun hatten. Als er schließlich damit fertig war, war es fast Mittag. Markby trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch und stellte sich die Frage, die man sich stets als Erstes stellen musste, wenn es um einen Mordfall ging: cui bono? Wer hatte einen Vorteil davon? Immer vorausgesetzt, Katies Ermordung war kein Akt sinnloser Gewalt, musste irgendjemand daraus seinen Vorteil ziehen. Sicher nicht ihre Eltern, und auch nicht Prue Wilcox. Was hatte Meredith gesagt? Wenn Maria sich Matthew Conway angeln wollte, dann musste sie nicht nur Adeline aus dem Weg räumen. Es war an der Zeit, sich noch einmal mit der Lady zu unterhalten. Selbst die anmutige Mrs. Lewis musste irgendwann einmal an einem Diätcracker knabbern, die roten Lippen an den Rand einer Tasse schwarzen Kaffees legen oder vielleicht auch nur einen Apfel essen. Markby stellte sich vor, wie die perfekten weißen Zähne in einen knackigen Apfel bissen. Warum nur musste er an einen Vampir denken? Apfel. Eva. Schlange. Das Böse. Also jetzt aber!, tadelte er sich. Das ist wirklich nicht der geeignete Zeitpunkt für Wortspielereien. Bleiben wir doch logisch. Warum haben Amerikaner alle so gute Zähne? Warum bin ich so aufgeregt bei dem Gedanken, Maria Lewis zu befragen?
Maria öffnete die Tür an der Seite von Park House, die zum Bürotrakt führte. Sie blickte Markby von oben bis unten an wie einen Hausierer, der gekommen war, um Schnürsenkel zu verkaufen.
»Hi!«, sagte sie lässig.
»Wollen Sie wieder mit Matthew reden? Können Sie ihn nicht ein wenig in Ruhe lassen? Es ist wirklich schwer für ihn, mit der ganzen Sache fertig zu werden. Außerdem ist es Mittag. Essen Sie denn nichts?«
»Nein«, antwortete Markby brüsk.
»Ich bin Polizeibeamter. Ich nehme ungesundes Fastfood zu ungesunden Zeiten zu mir, und ich leide unter Verdauungsproblemen. Wahrscheinlich ende ich irgendwann mit einem Magengeschwür. Die Öffentlichkeit erwartet das für ihre Steuergelder. Ich möchte mit Ihnen reden, und ich dachte mir, Sie hätten jetzt vielleicht Zeit.«
Ihre hellen Augen ruhten neugierig auf ihm.
»Sicher. Kommen Sie herein.« Sie trat zur Seite, und er schob sich an ihr vorbei in den Bürotrakt. Sie hatte Parfüm aufgetragen. Das Büro war sehr still.
»Matthew isst mit Adeline und Prue im Haupthaus«, erklärte sie, als hätte sie seine Gedanken erraten.
»Er hat sich den Nachmittag frei genommen. Wenn Sie hier mit mir reden möchten, sind wir ungestört. Oder sollen wir lieber nach oben in mein Apartment gehen?«
»Hier ist es gut«, beeilte er sich zu sagen. Er hatte nicht ganz daneben gelegen, was Marias Mittagessen anging. Auf ihrem Schreibtisch stand ein Tablett mit drei Scheiben Roggen-Knäckebrot und einer Schale mit Hüttenkäse.
»Ich mach Ihnen schnell einen Tee. Milch, richtig? Setzen Sie sich doch.« Ein roter Fingernagel deutete auf einen futuristischen Sessel, der aussah, als hätte sein Designer beim Entwurf die kleinen Gefängniszellen im Tower von London vor Augen gehabt: Er gestattete dem Benutzer keinerlei Komfort, ganz gleich, wie dieser sich verrenkte.
»Und fassen Sie nichts an!«, fügte sie in drohendem Ton hinzu. Wahrscheinlich hätte sie eine prima Gefängniswärterin abgegeben! Auf dem Weg nach draußen in die kleine Teeküche warf sie einen Aktenschrank zu, als wollte sie betonen, dass der Inhalt des Büros Markby nicht das Geringste anging. Sie war wirklich schnell mit dem Tee. Aber es dauert schließlich auch nicht lange, heißes Wasser über einen Aufgussbeutel zu gießen. Markby schwenkte den Beutel in seiner Tasse hin und her und sagte freundlich:
»Ich habe keinen Durchsuchungsbefehl oder dergleichen. Ich bin also gar nicht befugt, herumzuschnüffeln.«
»Herumschnüffeln und Durchsuchen«, entgegnete sie,
»sind zwei verschiedene Dinge.« Sie nahm eines der Knäckebrote und brach es zwischen ihren scharlachroten Raubvogelklauen geschickt in zwei gleich große Hälften.
»Sie hätten beispielsweise eine Wanze verstecken können.«
»Ein Abhörgerät!« Markby blinzelte überrascht.
»Ich bin ein gewöhnlicher Kriminalbeamter, kein Geheimdienstagent!«
»Ach, hören Sie schon auf. Sie sind nicht gewöhnlich!« Sie biss in ihr Knäckebrot und lachte ihn dabei aus hellen Augen an.
»Nur zu, Chief Inspector, fragen Sie.«
»Wie geht es Mrs. Conway und Mrs. Wilcox heute?«, begann er.
»Adeline geht es schlimmer als je zuvor. Und Prue verhält sich … englisch. Steife Oberlippe, wenn Sie verstehen, was ich meine. Meine Güte, warum verziehen Sie so das Gesicht? Sie halten mich für eine hartherzige, kaltschnäuzige Person, wie?«
»Sie haben es erfasst«, erwiderte Markby, fest entschlossen, es ihr mit gleicher Münze zurückzugeben. Maria lächelte.
»Ich mag Sie. Ich mag Sie wirklich. Sehen Sie mich nicht so verängstigt an. Ich bin eine sanfte Miezekatze.« (Eher eine Löwin!, dachte Markby.)
»Ich sage nur das, was ich denke. Und es tut mir Leid für alle hier, wirklich. Nun ja, für Matthew hauptsächlich. Und für Prue. Sinnlos, Adeline zu bedauern. Sie hat alles längst hinter sich. Sie gehört eigentlich in ein Sanatorium, wo sich Fachleute um sie kümmern.«
»Am Tag, als Katie starb …«, sagte Markby und ignorierte ihre letzte Bemerkung.
»Können Sie mir sagen, was an diesem Tag hier im Haus vorgefallen ist, aus Ihrer Sicht?« Sie runzelte die Stirn.
»Warten Sie. Habe ich Katie an diesem Tag zum Schulbus gefahren?«
»Das haben Sir mir jedenfalls erzählt. Wir sind uns begegnet, als Sie aus dem Zeitungsladen kamen, erinnern Sie sich?«
»Ja, das ist richtig.« Sie zögerte.
»Anschließend bin ich hierher zurückgekommen, und es war ein ganz gewöhnlicher Arbeitstag. Zumindest hier im Büro. Abends ist Katie nicht nach Hause gekommen, aber davon habe ich erst sehr spät erfahren.«
»Wie spät?«
»Oh, vielleicht gegen halb elf. Ich bin nach oben in mein Apartment gegangen, als ich im Büro fertig war, so gegen sechs. Ich habe geduscht, mich fürs Abendessen umgezogen, die üblichen Dinge eben. Ich glaube, ich habe mir die Haare gewaschen. Schätzungsweise gegen Viertel nach zehn hörte ich Adeline keifen. Das ist nichts Ungewöhnliches, aber um diese späte Zeit schon. Normalerweise liegt sie um zehn im Bett. Ich bin auf die Treppe gegangen und habe über das Geländer nach unten gesehen. Ich wollte wissen, was los war. Adeline stand unten in der Halle, und Prue versuchte, sie zu beruhigen. Matthew war nirgendwo zu sehen. Also ging ich nach unten und fragte Prue, was denn los wäre. Sie sagte mir, dass Katie nicht nach Hause gekommen und Matthew soeben nach Bamford gefahren sei, um sie zu suchen.« Markby nickte, während er überlegte, ob ihr bewusst war, dass er ihre Aussage zumindest in diesem Punkt überprüfen konnte.
»Und was glaubten Sie, was Katie zugestoßen sein könnte?« Maria schwieg einen Augenblick.
»Ich dachte, sie wäre bei ihrem Freund. Haben Sie schon mit ihm gesprochen?«
»Ja. Um welche Zeit kam Mr. Conway zurück?«
»Ich weiß es nicht genau. Kurz vor Mitternacht, glaube ich. Ich bin direkt wieder nach oben gegangen, nachdem ich mit Prue gesprochen hatte. Ich kann ihr bei Addy nicht helfen.«
»Also waren Sie zwischen sechs und zehn Uhr fünfzehn abends, als sie mit Prue Wilcox gesprochen haben, allein in Ihrem Apartment ganz oben im Haus?« Sie lächelte nicht mehr, und ihre Augen blickten hart wie polierter Stahl.
»Das ist richtig.«
»Haben Sie irgendwann im Verlauf dieser Zeit mit jemand anderem gesprochen?«
»Ja. Mit meiner Mutter.«
»Ihrer Mutter!« Markby wäre fast von seinem unbequemen Sessel gefallen.
»Sie lebt bei Ihnen? Ich dachte, Sie wohnen allein?«
»Natürlich wohnt sie nicht bei mir! Sie lebt in New Jersey. Telefon, Chief Inspector! Ich habe sie gegen halb neun örtlicher Zeit angerufen, also halb vier nachmittags in New Jersey. Wir haben uns etwa zehn Minuten lang unterhalten. Es ist sehr teuer, und ich kann mir kein längeres Gespräch leisten.« Sie gab ein leises, ärgerliches Zischen von sich.
»Warum, was ist daran falsch? Haben Sie geglaubt, Mädchen wie ich hätten keine Mutter?«
Es war Viertel vor vier. Josh Sanderson ging rasch durch das Schultor und machte sich auf den Heimweg. Er schob sich durch seine Mitschüler, alleine, ohne Begleitung, auf die Art und Weise, die typisch ist für einen echten Einzelgänger, doch umgeben von der undefinierbaren Aura eines Menschen, der sich – wie Kiplings Katze – selbst genügt. Ein oder zwei Mitschüler sahen ihm hinterher, weil sie von Katie wussten, doch keiner sprach ihn an. Es war, als schämten sie sich seiner Gegenwart. Normalerweise hätten sie ihn ignoriert. Sie hatten ihn stets behandelt wie jemanden, der unter ihrer Würde war. Er war nicht gut in Sport, nicht gut im Schauspielunterricht (der normalerweise eine anerkannte Alternative zur Leibesertüchtigung darstellte) und hatte niemals etwas zum allgemeinen Klatsch beizutragen. Er war nichts weiter als ein kluger, belesener, schweigsamer Träumer, der mit einem hochnäsigen Mädchen von der Klosterschule herumzog.
Doch dieses Mädchen war nun tot, genau wie Lynne Wills, die sie alle gekannt hatten. Seit Katies Ermordung – und besonders, seit einen Tag später ein Polizeibeamter in die Schule gekommen war und nach Josh gefragt hatte – konnten sie seine Gegenwart nicht länger ignorieren. Andererseits wussten sie auch nicht, wie sie sich verhalten sollten. Damit spiegelten sie exakt die allgemeine Unsicherheit, von der Markby gegenüber Meredith gesprochen hatte. Ungestüme Jugendliche, die Josh als unbedeutend abgetan hatten, fragten sich nun, ob er tatsächlich das war, was er immer zu sein gewesen schien. Oder ob es möglich war, dass sie mit ihren oberflächlichen, raschen Urteilen falsch gelegen hatten.
Josh wusste, was in ihren Köpfen vorging, doch es kümmerte ihn genauso wenig wie alles andere. Katie war der einzige Mensch gewesen, der ihm etwas bedeutet hatte, und Katie war tot. Die schmerzhafte Lücke konnte nicht ausgefüllt werden. Er hatte immer davon geträumt, dass vielleicht eines Tages, wenn er sich nur genug anstrengte, einen Platz an der Universität bekam und später richtig Karriere machte, dass dann nicht einmal mehr die Conways Einwände gegen ihn haben konnten. Dann konnten er und Katie für immer zusammen sein. Der Plan ihrer Mutter, Katie nach Paris zu schicken, hatte ihm furchtbare Angst gemacht, weil sie dadurch seiner Welt entrissen worden wäre, bevor er seine Ziele erreichen konnte. Sie wäre verändert zurückgekommen, nicht mehr länger an seinem provinziellen Gerede und seinen einfachen Ansichten interessiert. Nun war sie ihm auf ganz andere Weise entrissen worden, und für keinen von ihnen beiden gab es eine Zukunft mehr.
Josh wollte nicht nach Hause. Tante Celia wurde zwar nicht müde zu betonen, wie tragisch sie das alles fand, doch es gelang ihr nicht, die heimliche Befriedigung darüber zu verbergen, dass Katie nicht mehr war. Er hätte Tante Celia lieben müssen, weil sie immer gut zu ihm gewesen war. Doch das tat er nicht. Und seine leibliche Mutter konnte er nicht lieben, weil er sie überhaupt nicht kannte. Er hatte all seine Liebe einem einzigen Menschen geschenkt.
Josh schlug den Weg in Richtung Stadtpark ein. Im Sommer hatten er und Katie manchmal auf der Bank beim Kinderspielplatz gesessen, sich unterhalten und den Kleinen beim Spielen zugeschaut. Im Winter wurde der Park bei Einbruch der Dämmerung geschlossen, und niemand ging nach der Schule noch dorthin. Wenn Josh nun doch zum Park ging, dann nur, weil er dort wieder bei Katie sein konnte und weil niemand ihn stören würde.
Der Spielplatz lag verlassen. Josh ignorierte das Schild, das den über Zwölfjährigen untersagte, die Spielgeräte zu benutzen, setzte sich auf das Karussell, drückte sich mit den Füßen im Kreis herum, stellte sich auf die Schaukel, schwang sich hin und her, quetschte sich sogar in die kleine Weltraumrakete und schaukelte darin, bis die rostigen Federn alarmierend knarrten. Dann, weil der Parkwächter bald seine Runde machen und sich wütend auf ihn stürzen würde, stand er auf und wanderte in Richtung Ausgang.
In diesem Augenblick spürte er, dass er nicht allein war, und zur gleichen Zeit hörte er hinter sich einen Fuß scharren. Er drehte sich in Erwartung des wütenden Parkwächters um, doch es war eine andere dunkle Gestalt, die hinter ein paar Büschen hervortrat, ihn an den Schultern packte und brüllte:
»Hab ich dich! Ich muss ein ernstes Wort mit dir reden!«
Josh keuchte erschrocken auf und versuchte sich aus dem schmerzhaften Griff des Mannes zu befreien.
»Was wollen Sie von mir?«
»Ich denke, das weißt du sehr genau!« Endlich ließ Matthew Conway den Jungen los, doch gleichzeitig versetzte er ihm einen heftigen Stoß, der ihn hinterrücks zu Boden sandte.
»Du hast dich mit meiner Tochter amüsiert!«
Josh spürte, wie sein Gesicht rot anlief und Wut in ihm aufstieg.
»Das habe ich nicht! Das ist eine Lüge! Ich glaube nicht, was die Polizei erzählt! Es stimmt einfach nicht!«
»Es stimmt, und du weißt das sehr genau! Sie war so ein unschuldiges, vertrauensvolles Kind, und sie muss ausgerechnet an dich geraten, du lüsterner Mistkerl! Ich sollte dich windelweich prügeln!«
In Josh kochte die Wut über. Er verlor die Kontrolle über sich, warf sich mit geballten Fäusten auf Conway und versetzte ihm eine Serie von Schlägen. Sie trafen Conway nicht ernstlich, doch er war überrascht, und für ein, zwei Augenblicke stand er nur da und steckte den Hagel aus Faustschlägen ein. Dann fluchte er lästerlich und packte Josh beim Kragen, um ihn zu schütteln wie ein Terrier eine Ratte.
»Das reicht. Den Rest hast du dir selbst zuzuschreiben!« Er hob den Arm und holte aus.
Josh kniff die Augen zusammen und zog den Kopf in Erwartung des Angriffs ein. Doch er kam nicht. Stattdessen rief eine andere Stimme:
»Ich denke, das reicht tatsächlich, Conway. Lassen Sie ihn los!«
Josh spürte, wie er fallen gelassen wurde. Er öffnete die Augen und sah im Zwielicht, dass ein weiterer Mann hinzugekommen war. Es war dieser Chief Inspector, Alan Markby. Er kam über den Rasen herbeigerannt, sein Atem ging schneller.
»Josh, alles in Ordnung?«
»Ja«, murmelte Josh und rieb sich den schmerzenden Hals.
»Dann geh zum Ausgang und warte dort auf mich. Ich
möchte mich kurz mit Mr. Conway unterhalten.«
Nachdem Josh sich außer Hörweite zurückgezogen hatte, wandte Markby sich in der zunehmenden Dunkelheit seinem Gegenüber zu.
»Er hat meine Tochter verführt!«, sagte Conway mit schwerer Zunge.
»Das wissen Sie nicht genau, und der Junge streitet es ab«, antwortete Markby scharf.
»Ich kann verstehen, wie Sie sich fühlen müssen, Conway, doch ich möchte eines klarstellen: Nichts von dem, was geschehen ist, gibt Ihnen das Recht, Josh Sanderson oder sonst irgendjemanden tätlich anzugreifen oder das Gesetz in die eigene Hand zu nehmen. Haben Sie das verstanden? Mir gefällt Ihr Verhalten absolut nicht. Es hat mir nicht gefallen, wie Sie durch die nächtlichen Straßen gefahren sind und Jugendliche angesprochen haben, als Ihre Tochter vermisst war, auch wenn ich Ihre Motive verstehe. Und es gefällt mir noch viel weniger, wie Sie diesem jungen Mann hier aufgelauert haben, wie Sie ihm in einen verlassenen Park gefolgt sind und ihn schließlich angegriffen haben!«
»Er hat mich angegriffen!«, brauste Conway auf.
»Er hat verrückt gespielt!«
»Sie haben ihn als Erster gepackt. Ich habe alles von dort drüben gesehen. Der Junge hatte Angst. Seien Sie froh, wenn er Sie nicht anzeigt! Ich denke, Sie sollten jetzt besser nach Hause gehen, und dort bleiben. Gute Nacht.« Conway schob sich an Markby vorbei und stapfte aus dem Park. Er passierte den wartenden Josh beim Tor, ohne ein Wort zu verlieren und ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Markby folgte ihm langsam. Als er Josh erreichte, blieb er stehen.
»Ich begleite dich nach Hause, Josh«, sagte er.
»Der Parkwächter kommt jeden Augenblick und sperrt das Tor ab. Ich habe dich gesucht, weißt du? Ich war bei dir zu Hause, nach der Schule. Ich dachte, wenn ich zur Schule gehe, regt sich der Schulleiter wieder unnötig auf. Deine Tante meinte, du wärst vielleicht an einen der Plätze gegangen, wo du dich immer mit Katie getroffen hast. Sie erwähnte den Park und das Café. Ich war im Café, aber den Park hätte ich fast ausgelassen, weil es bereits dunkel wurde. Glücklicherweise bin ich doch noch hingegangen.«
»Er glaubt, Katie und ich hätten miteinander … Sie wissen schon, dass wir es getan hätten«, murmelte Josh.
»Sie denken es auch, genau wie Tante Celia. Aber das haben wir nicht!«
»Also gut, Josh, ich glaube dir. Ich verstehe, wie sehr dich ihr Tod schmerzt, und ich will den Schmerz nicht noch vergrößern. Aber ich muss Fragen stellen, wenn ich ihren Mörder finden soll. Hatte sie außer dir noch andere Freunde? Oder vielleicht, bevor ihr euch kennen gelernt habt?«
»Nein!«, rief Josh. Vehement fuhr er fort:
»Er benimmt sich gerade so, als hätte sie ihm etwas bedeutet! Aber sie war ihnen egal! Keiner von beiden hat sie geliebt!«
»Wer sind ›sie‹?«, fragte Markby.
»Ihre Eltern! Ihre Mutter benimmt sich wie eine Verrückte, aber ich glaube nicht, dass sie so verrückt ist, wie sie tut! Und ihr Vater macht mit einer anderen Frau herum! Sie haben Katie nur benutzt, um sich gegenseitig das Leben schwer zu machen! Sie war eine Waffe, mit der sie sich wehtun konnten! So etwas macht man nicht mit Menschen, die man angeblich liebt!«
»Wenn Menschen sehr unglücklich sind, dann denken sie oft nicht mehr logisch. Sie fügen denjenigen Schmerz zu, die sie lieben. Ich bin sicher, Mr. und Mrs. Conway liebten ihre Tochter über alles, auch wenn sie ihr sehr viel Kummer bereitet haben. Ich bin sicher, dass Katie ihre Eltern ebenfalls geliebt hat. Aber sie hat Mrs. Mitchell gebeichtet, dass sie eine Menge Dinge getan hat, die ihre Eltern schockiert hätten, wenn sie davon gewusst hätten. Weißt du, welche Dinge damit gemeint waren?«
»Nein …« Der Junge zögerte.
»Aber letztes Jahr …«
»Sprich weiter«, ermunterte Markby ihn.
»Ich kann Ihnen nichts Genaues sagen. Aber letztes Jahr hatte sie zu Hause eine schlimme Zeit. Sie bekam Depressionen und hat eine ganz eigenartige Phase durchgemacht. Sie ging allen aus dem Weg, selbst mir. Sie kam wochenlang nicht mehr in den Jugendclub. Ich dachte, sie hätte vielleicht andere Freunde gefunden. Doch dann, irgendwann, kam sie wieder, und wir waren wieder Freunde, und alles war wieder in Ordnung.«
»Du hast sie nicht gefragt, wo sie gesteckt hat? Mit wem sie sich in der Zwischenzeit getroffen hat?« Im gelben Schein einer Straßenlaterne schüttelte Josh den Kopf und seine Brillengläser glänzten.
»Ich habe nicht gefragt, weil ich Angst hatte, sie könnte wütend werden und wieder gehen. Sie war zurück, wir waren zusammen, und das war alles, was zählte. Es ist mir egal, ob Sie das verstehen können!«
»Oh, ich verstehe das, Josh«, sagte Markby. Markby verstand es tatsächlich nur zu gut. Was dieser Junge beschrieb, war der wahre Preis der Liebe.
»Ich glaube nicht, dass Mr. Conway dir noch einmal Schwierigkeiten machen wird«, sagte er laut.
»Aber falls doch, lass es mich augenblicklich wissen.« Er blickte dem jungen Sanderson hinterher, der über die abendlichen Bürgersteige dem freudlosen, lieblosen Haus seiner Tante entgegenging. Sie mochten Katies Mörder fangen, doch für Josh würde es keinen Unterschied machen. Es war, wie Markby Meredith gesagt hatte: Die Narben, die ein Mord hinterließ, heilten niemals ganz.
»Schlafen Sie, Adeline?« Prue Wilcox schlich auf Zehenspitzen zum Bett. Adeline Conway lag in voller Kleidung auf der Seite und ruhte mit dem Kopf auf einem Arm. Die achtlos abgestreiften Hausschuhe lagen neben dem Bett. Sie hatte die Augen geschlossen und atmete regelmäßig. Die Sonne ging unter, und das Zimmer war nur spärlich beleuchtet. Prue seufzte erleichtert auf. Sie gestand es sich nur höchst ungern ein, und sie hätte niemals zu jemand anderem darüber gesprochen, doch die Führung des Conwayschen Haushalts und die Pflege Adelines überstiegen allmählich ihre Kräfte. Sie war nicht mehr die Jüngste. Doch jetzt, nach der schrecklichen Tragödie von Katies Tod, wie konnte sie da die Conways im Stich lassen, selbst wenn es nur für kurze Zeit war? Sie hatte so auf eine kleine Abwechslung gehofft, auf einen Urlaub. Ständig schrieb ihre Schwester in Cornwall und lud sie zu sich ein. Sie hatte eigentlich vorgehabt, mit Matthew zu reden, damit er für ein, zwei Wochen eine Pflegeschwester engagierte. Doch nicht jetzt. Jetzt war es völlig unmöglich. Prue schlich aus dem Zimmer, und da ihr Schützling tief und fest schlief, ging sie in ihre eigenen Räume, um sich hinzulegen. Stille senkte sich über Park House. In dem Zimmer, das Prue gerade verlassen hatte, regte sich Adeline Conway und schlug blinzelnd die Augen auf.
»Prue?« Sam der Kater lag zusammengerollt auf dem Bett. Er öffnete ein grünes Auge und schloss es wieder, als Adeline sich aufrichtete und in ihrem Zimmer umsah. Es muss Abend sein, dachte sie. Durch das Fenster drang kaum mehr als graue Dämmerung. Sie schwang die Beine aus dem Bett und tastete nach ihren Hausschuhen. Dann warf sie einen Blick in den Spiegel und runzelte die Stirn, als sie die tiefen Schatten im Gesicht ihres Ebenbilds sah, unsicher, wer ihr da entgegenblickte. Sie berührte ihre Stirn und die Haare mit forschenden Fingern, und das Spiegelbild tat das Gleiche. Also war sie tatsächlich diese bleiche, magere Frau mit den gehetzten Augen. So sah sie also aus! Das war es, was andere sahen, wenn sie vor ihnen stand. Sie überlegte, wie alt sie eigentlich war, denn irgendwie hatte sie im Verlauf der letzten Jahre aufgehört, ihre Geburtstage zu zählen. Sie rechnete nach. Katie war sechzehn. Das bedeutete also, dass sie, Adeline, achtunddreißig sein musste. Da war noch etwas mit Katie, etwas, das ihr nicht einfallen wollte. Es war da, in irgendeinem Winkel ihres Verstandes, doch der Zugang dazu war blockiert, als läge es hinter einer Mauer. Sie blickte sich um und wusste, wer sie war, wo sie war – und dann konnte sie nicht mehr weiterdenken, weil die Mauer im Weg war. Was auch immer auf der anderen Seite lauerte, es war sehr, sehr schlimm. Sie wollte nicht darüber nachdenken, sich nicht daran erinnern. Besser, die Mauer da zu lassen, wo sie war, als Schutz. Sie ging nach draußen in die Halle. Es war sehr still überall. Nur die Uhr tickte irgendwo unten in der Eingangshalle. Sie lauschte an Prues Tür. Sie hörte ein schwaches, rhythmisches Schnarchen. Prue schlief also. Matthew war … Wo war Matthew nur? Er war in seinem Büro! Sie würde hinuntergehen und ihm sagen, dass sie zusammen Tee trinken würden. Es musste Teezeit sein. Die Uhr unten schlug vier, wie zur Bestätigung. Sie erinnerte sich undeutlich, dass die Uhr falsch ging, schon seit Jahren, doch es spielte keine Rolle. Sie würde Matthew in seinem Büro abholen, und sie würden zusammen Tee trinken. Wenn Katie in der Zwischenzeit nach Hause käme, würde sie sich mit zu ihnen an den Tisch setzen. Der Gedanke an ihre Tochter weckte erneut Unruhe in ihr. Irgendetwas war doch … Vorsichtig ging sie nach unten und hielt sich dabei am Geländer fest. Matthews Bürotrakt lag auf der anderen Seite der grünen Tür. Adeline nahm sie angstvoll in Augenschein. Sie war noch nie jenseits dieser Tür gewesen. Aber dort war Matthew, und vielleicht war auch Katie dort. Mit beispielloser Tapferkeit streckte sie die Hand aus und drückte die Klinke herab. Die Tür schwang lautlos in gut geölten Angeln auf. Adeline ging hindurch und betrachtete voller Staunen das moderne Wunderland, das dahinter lag. Hier war ja alles so hell und sauber! Und so warm! Sie befand sich in einem kurzen, schmalen Korridor. Die Wände waren weiß gestrichen, beleuchtet von hellen Neonlampen in der Decke. Auf dem Boden lag ein blau-grauer Teppich. Eine offenstehende Tür zur Rechten zeigte ein leeres, abgedunkeltes Büro mit einem großen viktorianischen Schreibtisch. Adeline erinnerte sich an diesen Schreibtisch – er hatte ihrem Vater gehört. Matthew musste ihn hier her geschafft haben. Doch Matthew war nicht da. Irgendjemand anderes hielt sich in einem Raum zur Linken auf. Nicht hinter der ersten Tür, hinter der zweiten, am Ende des Korridors. Was lag hinter der ersten? Sie öffnete sie neugierig und entdeckte voll Überraschung eine moderne kleine Küche, Teegeschirr, einen Kessel, eine Biskuitdose. Also konnten sie ihren Tee gleich hier im Büro nehmen! Sie ging weiter zur zweiten Tür. Dahinter erklang das Geräusch einer Schreibmaschine. Adeline öffnete lautlos die Tür und hielt den Atem an. Es war ein großer, strahlender Raum mit einem Schreibtisch, Aktenschränken, einigen Maschinen, deren Zweck sie nicht verstand, und einer jungen Frau, die mit dem Rücken zu ihr gewandt an einer Schreibmaschine saß. Die junge Frau besaß langes, glattes, hellblondes Haar. Adeline näherte sich leise über den blauen Teppich. Die Sekretärin tippte weiter, ohne etwas zu bemerken. Adeline roch ihr Parfüm. Sie sah die Hände der Frau, lange rote Fingernägel, die munter auf die Tasten tippten. Laut fragte sie:
»Wer sind Sie?« Die Sekretärin gab einen unterdrückten Schrei von sich und wirbelte herum. Ihr Stuhl hinderte sie nicht daran, wie Adeline bemerkte. Er ruhte auf einer Art Spindel, wie ein altmodischer Piano-Hocker. Die Frau sah auf eine spröde Art gut aus, nicht blass und bleich wie die Frau im Spiegel, sondern jung und gesund.
»Addy?« Die fremde Frau stand auf.
»Was zur Hölle – Sie haben mich erschreckt! Was machen Sie hier?« Sie starrte ihre unerwartete Besucherin an.
»Addy, ist alles in Ordnung mit Ihnen? Sie sehen … wo steckt Prue?« Ihre Stimme klang zunehmend schärfer.
»Prue schläft«, sagte Adeline.
»Ich möchte zu meinem Mann. Wo ist er?«
»Er ist in die Stadt gefahren. Warum kehren Sie nicht in Ihren Teil des Hauses zurück, und ich suche in der Zwischenzeit nach Prue?« Die Blondine schob sich an Adeline vorbei und ging in Richtung Tür. Allmählich machte sie Adeline wütend.
»Ich bin gekommen, um mit meinem Mann Tee zu trinken. Wir können hier Tee trinken. Ich habe Teegeschirr in der Kochküche gesehen.«
»Verdammt«, murmelte die andere zu sich selbst,
»sie ist völlig übergeschnappt! Ich wusste es!« Sie hob die Stimme.
»Kommen Sie, Adeline. Ich bringe Sie zurück in Ihren Teil des Hauses.« Adelines schmale Gesichtszüge wurden hart.
»Das Ganze hier ist mein Haus! Nicht nur ein Teil davon. Alles! Ich kann hingehen, wohin ich will! Es gehört alles mir!« Erkenntnis blitzte in den tiefliegenden Augen auf.
»Ich weiß, wer Sie sind!«
»Ganz ruhig, Addy.« Ihr Gegenüber streckte eine Hand aus. Adelines Kopf schoss auf dem langen dünnen Hals vor wie der einer Schlange.
»Wo steckt Matthew? Wo ist mein Ehemann? Was haben Sie mit ihm gemacht? Wo ist meine Toch ter?«
»Sicher, das Ganze hier ist Ihr Haus. Aber ganz bestimmt würden Sie viel lieber Tee in Ihrem eigenen Salon trinken, oder nicht? Es ist viel gemütlicher dort. Matthew wird zu Ihnen kommen, sobald er aus der Stadt zurück ist.« Sie zögerte, dann wandte sie sich um und ging zur Tür.
»Kommen Sie, Adeline.« Adelines Blick flackerte durch den Raum und blieb schließlich an einem großen Metallstempel auf dem Schreibtisch hängen. Sie streckte die dünne Hand danach aus. Die Blondine war bei der Tür angekommen und blickte sich beiläufig um, ob Adeline ihr folgte. Adeline sprang vor, den Arm hoch erhoben, mit dem Stempel in der Hand. Das Gesicht zu einer Fratze verzerrt und mit gebleckten Zähnen kreischte sie:
»Ich weiß, wer du bist! Du bist die, die mir mein Haus und meinen Mann wegnehmen will! Aber du wirst sie nicht bekommen! Sie gehören mir, und du wirst sie mir nicht wegnehmen. Das werde ich nicht zulassen!« Sie sah das Entsetzen in dem bemalten Gesicht und den Schrecken in den bleichen Augen. Die Blondine riss beide Arme hoch und packte die Hände ihrer Angreiferin. Doch Adeline lachte nur laut auf, weil der Versuch so vergeblich war. Sie fühlte sich so stark, stärker als jemals zuvor. Ihre Arme waren wie Stahl, und sie riss sich verächtlich los. Die Wucht der Bewegung ließ die andere Frau auf ihren Stöckelschuhen zurückstolpern. Adeline schlug zu und sah, wie der Stempel die Schläfe der Frau traf. Sie sah rotes Blut über das verhasste Gesicht laufen, sah, wie die bleichen Augen stumpf wurden. Mit einem Gefühl des Triumphs, der jede Faser ihres Körpers durchströmte, stand Adeline über Maria, als diese zu ihren Füßen zusammenbrach und sich auf dem Teppich eine Lache von dunklem klebrigen Blut bildete.
Matthew Conway befand sich auf dem Weg nach Hause. Er hatte seine Auseinandersetzung mit Josh Sanderson und Markby noch immer vor Augen. Er war wütend, über die beiden und über sich selbst, und er war sich bewusst, dass er die Angelegenheit völlig falsch angepackt hatte. Eingebracht hatte es ihm nichts, außer dem Verdacht des Chief Inspectors.
Doch der Drang, den Jungen zur Rede zu stellen, war zu stark gewesen, die schwelende Wut in ihm zu wild, um sie zu ignorieren. Er hatte Josh vom Schultor bis zum Park verfolgt, und er hatte versteckt hinter den Büschen zugesehen, wie der elende Junge auf der Schaukel und der Spielrakete gespielt – gespielt! – hatte. Ein großer schlaksiger Junge in diesem Alter trieb hinter dem Rücken des Parkwächters seinen Schabernack, als hätte er keine anderen Probleme in der Welt. Und Katie war tot. Gott allein wusste, welche Rolle dieser Junge dabei gespielt hatte – und ihr Tod war so unbedeutend für den kleinen Bastard, dass er sich auf dem Kinderspielplatz herumtrieb! Der Junge war ein Monster!